Mitte der dreißiger Jahre trafen sich einige der emigrierten Mitglieder der Familie in Jerusalem, vermutlich im Haushalt von Ernst Picard. Das Foto zeigt oben (v.l.) Hugo, Ernst und Heinz Picard, unten Edith, vielleicht deren Mutter Elise Russ und Helen. Das Bild wurde freundlicherweise von Michael Picard zur Verfügung gestellt

 

 

 

English summary

Dr. Ernst Picard

Auch über Ernst Picard, geboren am 24. Mai 1887, und späterer Träger des Eisernen Kreuzes (Konstanzer Zeitung 4.1.1915), gibt es in Konstanz keine Meldeunterlagen. (Beim Ernst Picard, der im Konstanzer Stadtarchiv heute als am 7. Februar 1892 in Wangen gebürtig gemeldet ist, handelt es sich um den Bruder des Schriftstellers Jacob Picard.)

Online findet man über Ernst Picard Angaben über seine Dissertation, die er in Heidelberg 1913 über das Thema "Ein Pseudoentodthelium des Labium majus" vorlegte und die 1921 als medizinische Dissertation veröffentlicht wurde. In der in Folge der Kriegsereignisse lückenhaften historischen Einwohnermeldedatei von Berlin gibt es über ihn keine Angaben. Allerdings findet man den Gynäkologen Dr. Ernst Picard im Berliner Adressbuch des Jahres 1919 unter der Adresse Olivaer Platz 10. Dann erfolgte ein Umzug der Praxis an den Kurfürstendamm 64, wo die Praxis laut Adressbuch bis ins Jahr 1936 zu finden ist.

In der Todesanzeige für den Bruder Max tauchen in der Liste der Trauernden Edit Picard, geborene Ruß, und ein Neffe Heinz Hellmuth auf. Edit Picard ist die Ehefrau des Gynäkologen und Heinz Hellmuth der am 5. September 1914 geborene erste Sohn des Paares. Eine Wiedergutmachungsakte in Berlin (B Rep. 025-08 Nr. 16497/59) erlaubt die Rekonstruktion des Alltags der Familie in den dreißiger Jahren. Dort heißt es in einer eidesstattlichen Erklärung des Paars:

"Wir bewohnten in Berlin, Kurfürstendamm bis zu unserer Auswanderung eine Wohnung mit 10 Zimmern und zwei Mädchenzimmern. Als wir Anfang August 1936 auswanderten, war in Berlin bereits eine Massenflucht von Juden. Da wir gezwungen waren, schnell unseren Haushalt aufzulösen - das Bekanntwerden der bevorstehenden Auswanderung hätte erhebliche Schwierigkeiten verursacht - waren wir gezwungen, einen grossen Teil unserer Einrichtung im Stich zu lassen, einen anderen zu verschleudern. Die Preise für die Gegenstände, die wir verkaufen konnten, waren infolge des grossen Angebotes von jüdischem Auswanderungsgut ganz gering."

Es folgt eine Auflistung der in die Wohnung eingebauten Möbel, die auf die Schnelle nicht ausgebaut werden konnten, ein umfangreiches Weinlager und den Diathermieapparat in der Arzt-Praxis. Weiter heißt es zur Angst und Hektik des Verkaufs des in langen Jahren erworbenen Eigentums:

"... die Käufer kannten natürlich unsere Notlage und nutzten sie aus. Eine Auktion der Sachen hätte möglicherweise mehr gebracht, aber sie war unten den damaligen Umständen zu gefährlich. Von dem Erlös der einzelnen Gegenstände erinnern wir uns nur noch des Preises für den Bechsteinflügel: wir erhielten für ihn RM 600.- obwohl er mehr als den vierfachen Wert hatte, ferner des Preises für die Krone im Esszimmer, für die wir RM 50.- bekommen haben, obwohl sie den zehnfachen Wert hatte. In Erinnerung ist uns nur der Gesamterlös, den wir erhalten haben, und dieser war etwa 1800 RM."

Die Auswanderung von Ernst und Edit Picard muss also im Jahr 1936 erfolgt sein. Der Sohn Heinz hatte schon 1933 das Land verlassen und hat sich in Tel Aviv als Kaufmann niedergelassen -  wohl ein Notbehelf, denn nach dem Krieg wird er im Rahmen der Wiedergutmachung für seinen "Ausbildungsschaden" entschädigt (B Rep. 025-08 Nr. 16497/59).

1935  muss  noch der Verkauf des Elternhauses in der Kreuzlinger Strasse in Konstanz betrieben werden. Und um Mutter Eugenie muss man sich auch noch sorgen. Ihr Auswanderungsgut befindet sich bis 1937 bei der Berliner Speditionsfirma Brasch & Rothenstein und soll nach Kreuzlingen in die Schweiz gebracht werden. Wo sich die Mutter während der Jahre 1936 und 1937 selbst befindet, geht aus den Akten nicht hervor. 

Einen Hinweis auf den Zeitpunkt der Ankunft in Palästina liefert die Palestine Gazette am 23. Juli 1936. Dort taucht Ernst Picard in der Liste der Ärzte auf, die zwischen Februar und Juni 1936 ihre Approbationsurkunde erhielten: "DR 2654 Ernst Picard, Jerusalem" (S. 793).

Hier ist ein Beweis  für die Existenz des Gynäkologen Dr. Ernst Picard in Tel Aviv: Die Eintragung im Telefonbuch des Jahres 1944.

Die Todesbescheinigung von Ernst Picard aus dem Jahr 1959 liegt vor. Laut der Auskunft des General Register Office starb Ernst Picard am 27. April im St. Marys Hospital in Paddington an einer Herzerkrankung. Sein Sohn C.W. Picard, wohl der zweite Sohn, den Semi Moore Moos erwähnt, hatte den Todesfall gemeldet. C.W. Picard lebte zu dem Zeitpunkt in der Longcroft Lane in Welwyn Garden City, einer schönen Gartenstadt in sicherer Entfernung zum Getöse und Gestank der Großstadt London. Der Totenschein meldet auch den damaligen Wohnsitz des verstorbenen Ernst Picard: 6A Hess-Straße in Tel Aviv.

Auch nach dem Todes ihres Mannes wird Edit Picard, geborene Ruß, im Rahmen verschiedener Bemühungen um die finanzielle Entschädigung für den Verlust der Heimat und von Hab und Gut keine Ruhe finden. Hiervon zeugen eine Reihe von Akten im Landesarchiv Berlin (u.a. B Rep. 025-01 Nr. 1 WGA 697/55 WGA 698/55 WGA 699/55). Hier ist ein Einzelbeispiel:

Im Juli 1955 meldete Edith Picard, geborene Ruß,  wohnhaft in Tel Aviv Hess-Str. 6a mit Hilfe der United Restitution Organization, Berlin Wilmersdorf, ihren Anspruch auf ein Bankguthaben bei der Dresdner Bank an, das ihrem am 11. Januar 1943 verstorbenen Bruder Wolfgang Günther Ruß, zuletzt wohnhaft in der Howaldstrasse 6 in Berlin-Schöneberg gehört hatte. Mitantragsteller war der in Irland lebende Ehemann der inzwischen verstorbenen Charlotte Heilfron, geborene Ruß. "Einzelheiten werden nachgereicht" heisst es in dem vorläufigen Antrag. Auch der Verlust eines Wertpapierdepots, diverser Pelze, der Einrichtung eines fotografisches Atelier und eines Pkw "Fiat" werden beklagt. Beide Kläger können Erbscheine aus dem Jahr 1951 vorlegen. Es dauerte bis 1960, dass die Dresdner Bank Stellung nahm und die Wiedergutmachungsämter von Berlin einen Beschluss fassten „mit dem Bemerken, dass die Kontounterlagen durch Kriegseinwirkung in Verlust geraten sind. Indessen ist aber den OFP-Akten -0 5205-41/24568 betreffend Günther Russ zu entnehmen, dass die Oberfinanzkasse Berlin-Brandenburg unter dem 30.10.1943 das beanspruchte Bankguthaben in Höhe von RM 1.040,-- vereinnahmt hat. Insoweit ist der behauptete Entziehungstatbestand als nachgewiesen anzusehen. Es wird beantragt, den Antragsgegner zu verurteilen, an die Antragsteller DM 130,-- nach Maßgabe der Vorschriften des BRÜG zu zahlen.

Dieses ist die Zusammenfassung nur eines der zahlreichen Rückerstattungsverfahren, die Edith Picard in diesen Jahren anstrengte. Es ging um Wertpapiere, Grundstücke, Wertsachen und weitere Bankguthaben.

Es gibt Umstände, die in diesem Aktenwust nicht zur Sprache kommen. Wenn man auf der Website von Yad Washem die Database der Opfer des Nationalsozialismus aufruft und den Namen "Russ" und die Ortsangabe "Berlin" eingibt, erscheinen 37 Einträge von Opfern, die nicht unbedingt in Auschwitz umgekommen sind, aber Opfer des NS-Regimes sind. Darunter befindet sich auch Günther Russ. Seine „Page of Testimony“ wurde erst 2005 in Jerusalem angemeldet von einer "Verfolgten der zweiten Generation", Ruth Lynn Nadelmann aus Lexington, Massachusetts.

Günther Russ hat nach Angaben des Gedenkbuchs des Bundesarchiv den Freitod gewählt. 

Auf dem Grabstein in Konstanz fehlt der Name von Edith Picard. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie zu der Zeit, als möglicherweise einer ihrer Söhne gegen Mitte/Ende der achtziger Jahre einem Konstanzer Steinmetz den Auftrag gab, die in der ganzen Welt verstreuten Mitglieder der "Picards am Zoll" auf dem jüdischen Friedhof zu vereinigen, noch am Leben war. Sie wurde am 23. Februar 1891 geboren.